Freitag, 25. März.
Ich habe den Telephondraht zerschnitten. Ich habe keine Lust mehr, immer gestört zu werden von dem albernen Kommissar, gerade dann, wenn die seltsame Stunde anbricht –
Herrgott – warum schreibe ich das nur! Kein Wort ist wahr davon. Es ist, als ob mir jemand die Feder führe.
Aber ich will – will – will hier das hinschreiben, was ist. Es kostet mich eine ungeheuere Überwindung. Aber ich will es tun. Nur einmal noch – das – – was ich will.
Ich habe den Telephondraht zerschnitten – – ah –
Weil ich mußte. – Da steht es, endlich! Weil ich mußte, mußte.
Wir standen am Fenster heute morgen und spielten. Unser Spiel ist anders geworden seit gestern. Sie macht irgendeine Bewegung und ich wehre mich, so lange es geht. Bis ich endlich nachgeben muß, willenlos das zu tun, was sie will. Und ich kann gar nicht sagen, welch wundervolle Lust es ist, dieses Besiegtwerden, dieses Hingeben in ihren Willen.
Wir spielten. Und dann, plötzlich, stand sie auf, ging zurück in das Zimmer. So dunkel war es, daß ich sie nicht mehr sehen konnte; sie schien verschwunden im Dunkel. Aber gleich kam sie wieder, trug in beiden Händen ein Tischtelephon, ganz wie meines. Sie setzte es lächelnd nieder auf das Fensterbrett, nahm ein Messer, schnitt die Schnur durch und trug es wieder zurück.
Wohl eine Viertelstunde lang habe ich mich gewehrt. Meine Angst war größer, wie je zuvor, aber um so köstlicher war dies Gefühl des langsamen Unterliegens. Und endlich brachte ich meinen Apparat, schnitt die Schnur durch und stellte ihn zurück auf den Tisch.
So ist es geschehen.
– Ich sitze an meinem Tisch; ich habe Tee getrunken, soeben hat der Hausknecht das Geschirr hinausgetragen. Ich habe ihn nach der Zeit gefragt, meine Uhr geht nicht recht. Fünf Uhr fünfzehn ist es, fünf Uhr fünfzehn –
Ich weiß, wenn ich jetzt aufsehe, wird Clarimonde irgend etwas tun. Sie wird irgend etwas tun, das ich auch tun muß.
Ich sehe doch auf. Sie steht da und lächelt. Nun – wenn ich doch den Blick wegwenden könnte! – nun geht sie zur Gardine. Sie nimmt die Schnur ab – rot ist sie, genau so wie die meines Fensters. Sie macht eine Schlinge. Sie hängt die Schnur oben an den Haken des Fensterkreuzes.
Sie setzt sich und lächelt.
– Nein, das kann man nicht mehr Angst nennen, was ich empfinde. Es ist eine entsetzliche, beklemmende Furcht, die ich doch nicht eintauschen möchte um nichts in der Welt. Es ist ein Zwang so unerhörter Art, und doch so seltsam wollüstig in seiner unentrinnbaren Grausamkeit.
Ich könnte gleich hinlaufen und das tun, was sie will. Aber ich warte, kämpfe, wehre mich. Ich fühle, wie es immer stärker wird mit jeder Minute –
So, ich sitze wieder hier. Ich bin rasch hingelaufen und habe getan, was sie wollte: die Schnur genommen, die Schlinge gemacht und an den Haken gehängt –
Und jetzt will ich nicht mehr aufsehen, ich will nur hierhin auf das Papier starren. Denn ich weiß, was sie tun wird, wenn ich jetzt wieder sie ansehe – – jetzt in der sechsten Stunde des vorletzten Wochentages. Sehe ich sie, so muß ich tun, was sie will, ich muß dann – –
Ich will sie nicht ansehen – –
Da lache ich – laut. Nein, ich lache nicht, irgend etwas lacht in mir. Ich weiß weshalb: über dieses »Ich will nicht – –«
Ich will nicht und weiß doch ganz sicher, daß ich muß. Ich muß sie ansehen, muß, muß es tun – – – und dann – – das übrige.
Ich warte nur, um diese Qualen noch länger auszudehnen, ja das ist es. Diese atemlosem Leiden, die höchste Wollust sind. Ich schreibe, schnell, schnell, um noch länger hier zu sitzen, um diese Sekunden der Schmerzen auszudehnen, die meiner Liebe Lüste ins Unendliche steigern –
Noch mehr, noch länger – –
Wieder die Angst, wieder! Ich weiß, ich werde sie ansehen, werde aufstehen, werde mich erhängen: nicht davor fürchte ich mich. O nein – das ist schön, das ist köstlich.
Aber etwas, irgend etwas anderes ist noch da – was hernach kommt. Ich weiß nicht, was es sein wird – aber es kommt, es kommt ganz sicher, ganz sicher. Denn das Glück meiner Qualen ist so ungeheuer groß – o ich fühle, fühle, daß ihm ein Entsetzliches folgen muß.
Nur nicht denken –
Irgend etwas schreiben, irgend etwas, gleichgültig was. Nur schnell, nur nicht besinnen – –
Meinen Namen – Richard Bracquemont, Richard Bracquemont, Richard – – oh, ich kann nicht mehr weiter, – Richard Bracquemont – Richard Bracquemont – – jetzt – jetzt – ich muß sie ansehen – – Richard Bracquemont – ich muß – nein, noch mehr – – Richard – Richard Bracque – – –
– Der Kommissar des IX. Reviers, der auf wiederholtes telephonisches Anläuten keine Antwort erhalten hatte, betrat nun sechs Uhr fünf Minuten das Hotel Stevens. Er fand im Zimmer Nr. 7 die Leiche des Studenten Richard Bracquemont am Fensterkreuze hängen, genau in derselben Lage wie seine drei Vorgänger.
Nur das Gesicht hatte einen anderen Ausdruck; es war in gräßlicher Angst verzerrt, die Augen, weit geöffnet, drangen heraus aus den Höhlen. Die Lippen waren auseinandergezogen, die starken Zähne fest übereinandergebissen.
Und zwischen ihnen klebte, zerbissen und zerquetscht, eine große schwarze Spinne, mit merkwürdigen violetten Tupfen.
– Auf dem Tische lag das Tagebuch des Mediziners. Der Kommissar las es und begab sich sofort in das gegenüberliegende Haus. Er stellte dort fest, daß die zweite Etage seit Monaten leer stand und unbewohnt war – –