Donnerstag, 17. März.
Ich bin in einer merkwürdigen Aufregung. Ich spreche mit keinem Menschen mehr; selbst Frau Dubonnet und dem Hausknecht sage ich kaum mehr guten Tag. Kaum lasse ich mir die Zeit um zu essen; ich mag nur noch am Fenster sitzen, mit ihr zu spielen. Es ist ein aufregendes Spiel, wirklich, das ist es.
Und ich habe ein Gefühl, als müsse morgen etwas vorfallen.
Freitag, 18. März.
Ja, ja, es muß etwas passieren heute –. Ich sage mir vor – ganz laut spreche ich zu mir, um meine Stimme zu hören – daß ich ja deshalb hier sei. Aber das Schlimme ist: ich habe Angst. Und diese Angst, daß mir etwas Ähnliches zustoßen könne, wie meinen Vorgängern in diesem Raume, mischt sich seltsam in die andere Angst: die vor Clarimonde. Ich kann sie kaum auseinanderhalten.
Ich habe Furcht, schreien möchte ich.
6 Uhr abends.
Rasch ein paar Worte, in Hut und Mantel.
Als es fünf Uhr war, war ich zu Ende mit meiner Kraft. Oh, ich weiß es jetzt gewiß, daß es irgendeine Bewandtnis haben muß mit dieser sechsten Stunde des vorletzten Wochentages – jetzt lache ich nicht mehr über den Schwindel, den ich dem Kommissar vormachte. Ich saß auf meinem Sessel, mit Gewalt hielt ich mich da fest. Aber es zog mich, riß mich fast zum Fenster. Ich mußte spielen mit Clarimonde – und dann wieder diese gräßliche Angst vor dem Fenster. Ich sah sie da hängen, den Schweizer Kommis, groß, mit dickem Halse und grauem Stoppelbart. Und den schlanken Artisten und den untersetzten kräftigen Sergeanten. Alle drei sah ich, einen nach dem anderen und dann zusammen alle drei, an demselben Haken, mit offenen Mündern und weit herausgestreckten Zungen. Und dann sah ich mich selbst, mitten unter ihnen.
O diese Angst! Ich fühlte wohl, daß ich sie ebensosehr vor dem Fensterkreuz hatte und dem gräßlichen Haken da oben, wie vor Clarimonde. Sie mag mir verzeihen, aber es ist so: in meiner schmählichen Furcht mischte ich sie immer hinein in das Bild der drei, die da hingen, die Beine tief schleifend auf dem Boden.
Das ist wahr, ich fühlte keinen Augenblick in mir einen Wunsch, eine Sehnsucht, mich zu erhängen; ich hatte auch keine Furcht davor, daß ich das tun möchte. Nein – ich hatte nur Angst vor dem Fenster selbst – und vor Clarimonde – vor etwas Schrecklichem, Ungewissen, das jetzt kommen mußte. Ich hatte den leidenschaftlichen, unbezwingbaren Wunsch, aufzustehen und doch ans Fenster zu gehen. Und ich mußte es tun –
Da schellte das Telephon. Ich nahm die Muschel, und ehe ich noch ein Wort hören konnte, schrie ich selbst hinein: »Kommen! Sofort kommen!«
Es war, als ob der Schrei meiner gellenden Stimme im Augenblicke alle Schatten in die letzten Ritzen des Fußbodens jagte. Ich war ruhig im Augenblick. Ich wischte mir den Schweiß von der Stirne und trank ein Glas Wasser; dann überlegte ich, was ich dem Kommissar sagen solle, wenn er komme. Endlich ging ich ans Fenster, grüßte und lächelte.
Und Clarimonde grüßte und lächelte.
Fünf Minuten später war der Kommissar da. Ich erzählte ihm, daß ich endlich der Geschichte auf den Grund komme, heute möge er mich noch mit Fragen verschonen, aber ich würde ihm gewiß in kurzem merkwürdige Enthüllungen geben können. Das Komische dabei war, daß, als ich ihm das vorlog, ich durchaus überzeugt war, daß ich die Wahrheit sage. Und daß ich es jetzt noch fast so fühle – – entgegen meinem besseren Wissen.
Er bemerkte wohl meinen etwas sonderbaren Gemütszustand, besonders, als ich mich wegen meines ängstlichen Schreies ins Telephon zu entschuldigen und ihn möglichst natürlich zu erklären versuchte – – und noch nicht recht einen Grund dafür fand. Er meinte sehr liebenswürdig, ich solle durchaus keine Rücksicht auf ihn nehmen; er stände mir immer zur Verfügung, das sei seine Pflicht. Lieber komme er ein Dutzend Mal vergebens, als daß er einmal auf sich warten lasse, wenn es nötig wäre. Dann lud er mich ein, heute abend mit ihm auszugehen, das würde mich zerstreuen; es sei nicht gut, wenn ich immer so ganz allein sei. Ich habe angenommen – obwohl es mir schwer fiel; ich mag mich nicht gerne trennen von diesem Zimmer.
Samstag, 19. März.
Wir waren in der Gaieté Rochechouart, in der Cigale und in der Lune Rousse. Der Kommissar hatte recht gehabt: es war gut für mich, daß ich einmal hier heraus kam, andere Luft atmete. Anfangs hatte ich ein recht unangenehmes Gefühl, so, als ob ich etwas Unrechtes tue, als ob ich ein Deserteur sei, der der Fahne den Rücken gekehrt habe. Dann aber legte sich das; wir tranken viel, lachten und schwatzten.
Als ich heute morgen ans Fenster trat, glaubte ich in Clarismondens Blick einen Vorwurf zu lesen. Vielleicht aber bilde ich mir das nur ein: woher soll sie denn überhaupt wissen, daß ich gestern nacht aus war! Übrigens dauerte das nur einen Augenblick, dann lächelte sie wieder.
Den ganzen Tag haben wir gespielt.
Sonntag, 20. März.
Ich kann heute nur wieder schreiben: den ganzen Tag haben wir gespielt.
Montag, 21. März.
Den ganzen Tag haben wir gespielt.
Dienstag, 22. März.
Ja, und das haben wir auch heute getan. Nichts, gar nichts anderes. – Zuweilen frage ich mich – wozu eigentlich, warum? Oder: was will ich eigentlich, wohin soll das führen? Aber ich gebe mir nie eine Antwort darauf. Denn es ist gewiß, daß ich nichts anderes wünsche, als gerade das. Und das, was auch immer kommen mag, ist es – – wonach ich mich sehne.
Wir haben miteinander gesprochen in diesen Tagen, freilich kein lautes Wort. Manchmal haben wir die Lippen bewegt, öfter nur uns angesehen. Aber wir haben uns sehr gut verstanden.
Ich hatte recht gehabt: Clarimonde machte mir Vorwürfe, weil ich weglief am letzten Freitage. Dann habe ich sie um Verzeihung gebeten und gesagt, daß ich es einsähe, daß es dumm von mir gewesen sei und häßlich. Sie hat mir verziehen und ich habe ihr versprochen, daß ich nie mehr weggehen wolle von diesem Fenster. Und wir haben uns geküßt, haben die Lippen lange an die Scheiben gedrückt.
Mittwoch, 23. März.
Ich weiß jetzt, daß ich sie liebe. Es muß so sein, ich bin durchdrungen von ihr bis in die letzte Fiber. Mag sein, daß die Liebe anderer Menschen anders ist. Aber gibt es einen Kopf, ein Ohr nur, eine Hand, die irgendeiner anderen von tausend Millionen gleich wäre? Alle sind verschieden, so mag auch keine Liebe der anderen gleich sein. Absonderlich ist meine Liebe, das weiß ich wohl. Aber ist sie darum weniger schön? Beinahe bin ich glücklich in dieser Liebe.
Wenn nur nicht die Angst wäre! Manchmal schläft sie ein, dann vergesse ich sie. Aber nur auf Minuten, dann wacht sie wieder und läßt mich nicht los. Sie kommt mir vor, wie ein armseliges Mäuslein, das gegen eine große schöne Schlange kämpft, sich entwinden will ihrer starken Umarmungen. Warte nur, du dumme kleine Angst, bald wird diese große Liebe dich fressen.
Donnerstag, 24. März.
Ich habe eine Entdeckung gemacht: ich spiele nicht mit Clarimonde – sie spielt mit mir.
So kam es.
Gestern abend dachte ich – wie immer – an unser Spiel. Da habe ich mir fünf neue verzwickte Folgen aufgeschrieben, mit denen ich sie am Morgen überraschen wollte, jede Bewegung trug eine Nummer. Ich übte sie mir ein, um sie möglichst schnell machen zu können, vorwärts und dann rückwärts. Dann nur die geraden Ziffern und dann nur die ungeraden, und alle ersten und letzten Bewegungen der fünf Folgen. Es war sehr mühselig, aber es machte mir viel Freude, brachte es mich doch Clarimonde näher, auch wenn ich sie nicht sah. Stundenlang übte ich so, aber endlich ging es wie am Schnürchen.
Heute morgen nun trat ich ans Fenster. Wir grüßten uns, dann begann das Spiel. Hinüber, herüber, es war unglaublich, wie schnell sie mich verstand, wie sie im selben Augenblicke fast alles tat, was ich machte.
Da klopfte es; es war der Hausknecht, der mir die Stiefel brachte. Ich nahm sie an; wie ich zum Fenster zurückging, fiel mein Blick auf das Blatt, auf dem ich meine Folgen notiert hatte. Und da sah ich, daß ich soeben nicht eine einzige all dieser Bewegungen ausgeführt hatte.
Ich taumelte beinahe, ich faßte die Lehne des Sessels und ließ mich hineinfallen Ich glaubte es nicht, las das Blatt wieder und wieder – – Aber es war so: ich hatte soeben am Fenster eine Reihe von Folgen gespielt – und nicht eine von meinen.
Und ich hatte wieder das Gefühl: eine Tür öffnet sich weit – ihre Türe. Ich stehe davor und starre hinein – – nichts, nichts – nur dieses leere Dunkel. Dann wußte ich: wenn ich jetzt hinausgehe, bin ich gerettet; und ich empfand wohl, ich konnte jetzt gehen. Trotzdem ging ich nicht. Das war, weil ich das bestimmte Gefühl hatte: du hältst das Geheimnis. Fest in beiden Händen. – Paris – du wirst Paris erobern!
Einen Augenblick war Paris stärker als Clarimonde.
– – Ach, jetzt denke ich kaum mehr daran. Jetzt fühle ich nur meine Liebe und in ihr diese stille, wollüstige Angst.
Aber in dem Augenblicke gab es mir Kraft. Ich las mir noch einmal meine erste Folge durch und prägte mir jede Bewegung deutlich ein. Dann ging ich zurück ans Fenster.
Genau gab ich acht auf das, was ich tat: es war keine Bewegung darunter, die ich ausführen wollte.
Dann nahm ich mir vor, den Zeigefinger an der Nase zu reiben. Aber ich küßte die Scheibe. Ich wollte trommeln auf der Fensterbank, aber ich fuhr mit der Hand durch das Haar. Es war also gewiß, nicht Clarimonde machte das nach, was ich tat: ich tat vielmehr das, was sie mir vormachte. Und tat es so schnell, so blitzartig, daß es fast zur selben Sekunde geschah, daß ich mir auch jetzt noch manchmal einbildete, von mir aus wäre die Willensäußerung ausgegangen.
Ich also, der so stolz darauf war, ihre Gedanken zu beeinflussen, ich bin es, der so ganz und gar beeinflußt wird. Nur – dieser Einfluß ist so leicht, so weich, o es gibt nichts, das so wohltuend wäre.
Ich habe noch andere Versuche gemacht. Ich steckte beide Hände in die Taschen, nahm mir fest vor, sie nicht zu rühren; starrte zu ihr hinüber. Ich sah, wie sie ihre Hand hob, wie sie lächelte und mir leicht drohte mit dem Zeigefinger. Ich bewegte mich nicht. Ich fühlte, wie meine Rechte sich heben wollte aus der Tasche, aber ich krallte die Finger tief in das Futter. Dann langsam, nach Minuten lösten sich doch die Finger – und die Hand kam heraus aus der Tasche und der Arm hob sich. Und ich drohte ihr mit dem Finger und lächelte. Es war, als ob gar nicht ich selbst das tue, sondern irgendein Fremder, den ich beobachtete. Nein, nein – so war es nicht. Ich, ich tat es wohl – – und irgendein Fremder beobachtete mich. Eben der Fremde, der so stark war und die große Entdeckung machen wollte. Aber das war ich nicht –
Ich – was geht mich irgendeine Entdeckung an! Ich bin da, um zu tun, was sie will, Clarimonde, die ich liebe in köstlichster Angst.